Auf Entdeckertour durch meine neue Wahlheimat

Freitag Vormittag. Ich springe in meine Jeans, streife mir schnell ein T-Shirt über und schlüpfe in meine bequemen Ballerinas. Im Gehen schnappe ich mir noch meine Tasche, vergewissere mich, ob auch der Autoschlüssel griffbereit liegt. Alles klar. Es kann los gehen. 

Und so beginne ich meine Tour. Eigentlich weiß ich noch recht wenig über die Stadt für deren Wochenzeitung ich schreiben will. Das muss ich ändern. Erst mal ins Zentrum. Das erste Ziel heißt VHS. Nun habe ich da so eine gewisse Vorstellung, die geprägt ist von der verstaubten VHS in meiner Heimatstadt. Ich klopfe an die erste Tür. Keiner da. Zweite Tür. Ebenso. Dritte Tür. Ich darf eintreten. Ich erwarte eine verstaubte Stimme, die mich feindselig anschaut. Ich rattere mein Anliegen herunter und werde mit einem freundlichen Lächeln gebeten Platz zu nehmen. Daten aufnehmen, Kursmöglichkeiten notiert, kurzes Telefonat und schon steht fest, meine Chancen stehen gar nicht mal so schlecht. Energiegeladen verlasse ich die heiligen Hallen und nehme mein nächstes Ziel aufs Korn. 

Buchcafè. Auch hier netter Empfang. Ich bekomme alles, was ich wollte. Wieder Erfolg. Nächste Etappe Medienzentrum mit dem SommerLeseClub. Informationen bekommen. Mögliche Autoren notiert. Kann das denn alles möglich sein? Jede Etappe ein Erfolg? Ich traue dem Frieden nicht so ganz. Nach jedem Ziel werde ich mit mehr Energie gespeist. Ich spüre wieder Leben in mir. Ich kann was erreichen. Ich muss nur an der richtigen Stelle sein. 

Weiter geht es. Mein neues Ziel ist das Westend der Stadt mit der Stadtteilbibliothek. Hier findet scheinbar freitags immer ein Wochenmarkt statt. Und weil wir unseren Blumenkasten neu bestücken wollen, habe ich mich umgeschaut und fand auch noch recht schöne Geranien. Doch die Tür der Bibliothek blieb mir verschlossen. Ich war zu spät. Schade. Also schlenderte ich noch ein wenig durchs Westend. 

Das Westend. Hier leben viele Ausländer. Zusammengepfercht? Nein. Isoliert? Nein. Sie haben sich nur ihre Welt geschaffen. Der Anblick der verschiedenen Nationen, das Stimmengewirr - manches verstehe ich, manches nicht. Ich komme mir vor wie im Melting Pot der Gesellschaft. Da gibt es Geschäfte mit russischen Produkten, türkische Supermärkte, ein Resturant mit russischen und schlesischen Spezialitäten. Und ich fühle mich wohl und nicht unsicher. Es ist eine ganz eigentümlliche Welt, die sich mir hier erschließt. 

Und während ich hier so umherschlendere, manifestiert sich mein Plan eine riesige Reportagenserie zum Westend und deren Bewohner zu machen. Den ersten Ansatz, wie ich Kontakte knüpfen kann, habe ich auch schon gemacht. Denn unter vorgehaltener Hand munkelt man, dass hier Menschen leben, die Koriphäen auf ihrem Gebiet sind, hier aber als ganz normale Menschen leben, zum Teil vielleicht am Rande der Existenz. Das stachelt mich an. Da begegnen mir Menschen, die vielleicht Professoren in ihrem Land waren oder bekannte Musiker. Hier kennt sie keiner. Ist der Mann, der an mir vorbeigeht und nach unten schaut, vielleicht ein Autor? Was kann diese Frau, die mit ihrem Kopftuch sich an mir vorbeidrängt? Ich will diese Geschichten aufschreiben, will diesen Menschen die gesellschaftliche Position geben, die ihnen gebührt. Denn was mich am meisten in unserer Gesellschaft nervt, ist die Tatsache, dass für uns immer noch jeder Ausländer ein potentieller Krimineller ist. Gibt es denn unter den Deutschen nur Heilige? Doch das werde ich mit meinen Recherchen und meinen Reportagen noch beweisen. Auch Ausländer sind Menschen wie DU und ICH, Menschen mit Schwächen aber besonders auch mit Stärken. 

Ich bin nun zu Hause, denke über meine heutige Tour nach und - ich bin zufrieden, mit mir, mit dem Leben als solches. 

Wie lange habe ich dieses Gefühl vermisst. Investition für diesen Tag heute: 6€. 

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Kerstin Schulz