Ferdinand von Schirach: "Der Fall Collini"

oder Wie werden NS-Verbrechen in Deutschland aufgearbeitet?

Bibliographisches:

  • ·         erschienen im September 2011 im Piper Verlag
  • ·         umfasst 199 Seiten, Hardcover Ausgabe

Zum Autor:

Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren. Schirach studierte in Bonn. Sein Referendariat absolvierte er in Köln. Nach erfolgreichem Abschluss ließ er sich als Anwalt 1994 nieder. Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger und gilt als Anwalt von Prominenten. Zu seinen Klienten zählen solche Persönlichkeiten wie Schabowski und Klaus Kinski. Besonders seine Strafanzeigen gegen den BND und den Berliner Datenschützer machten Ferdinand von Schirach auch in den Medien bekannt.

Sein erstes Buch, das er 2009 herausbrachte, wurde sofort ein Erfolg. Es ist eine Sammlung von Fällen aus seiner Kanzlei, die er in Form von Kurzgeschichten zusammengetragen hat. Bereits ein Jahr später folgte sein zweites Buch. Auch in diesem widmet er sich wiederum dem Alltag eines Strafverteidigers.

Mit seinem bisher letzten Buch „Der Fall Collini“ gelang es dem Autor auch in der Bundesrepublik einen Anstoß zum Umdenken einzuleiten. So wurde unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buches eine Kommission im Bundesjustizministerium ins Leben gerufen, die sich explizit mit der Aufarbeitung von NS-Verbrechen beschäftigen soll. Von der Bundesjustizministerin selbst wurde bei dieser Entscheidung auf von Schirachs Buch verwiesen.

 

Zum Inhalt:

Im Berlliner Hotel Adlon wird ein deutscher Industrieller auf brutale Weise ermordet. Der Täter Fabrizio Collini wartet nach seiner Tat auf seine Festnahme durch die Polizei im Foyer des Hotels. Er gesteht die Tat, schweigt jedoch über sein Motiv. Der junge und noch unerfahrene Anwalt Caspar Leinen soll die Pflichtverteidigung des Beschuldigten übernehmen. Doch schon kurz nach Beginn der Ermittlungen gerät der junge Anwalt in Gewissenskonflikte, als er erfährt, dass das Opfer der Großvater seines besten Freundes ist, bei dem er auch die schönsten Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht hatte. Dennoch stellt er sich der Herausforderung. Der Angeklagte schweigt sich vehement über sein Motiv aus. Doch der Fall scheint eine Wendung zu nehmen, als Caspar Leinen eine Verbindung zum Nationalsozialismus herstellen kann. Der scheinbar so klare Mordfall wird im Laufe der Verhandlungstage mehr und mehr zum Politikum, das zum Umdenken aller Verfahrensbeteiligten führt. Doch ein endgültiges Urteil kann nicht gefällt werden, da sich Fabrizio Collini kurz vor der Urteilsverkündung in seiner Zelle das Leben nimmt.

 

Sprachliche Gestaltung und Umsetzung der Thematik:

Der Autor überzeugt mit seiner erzählerischen Meisterschaft. Er führt den Leser detailgetreu in den Fall ein. Der Leser wird zum Teil der Ermittler. Ungeschönt beschreibt er sowohl die Obduktion der Leiche als auch die Vorkommnisse im zweiten Weltkrieg. Da braucht es schon eine recht harte Schale, um nicht einfach mit dem Lesen abzubrechen. Doch auch wenn man an seine Grenzen als Leser gerät, man muss einfach wissen, wie sich der Fall weiter entwickelt. Auch wenn der Mord auf den ersten Blick sehr brutal erscheint, so wird im Laufe des Buches die Sympathie für den Verbrecher größer, da die ganze menschliche Tragödie des Falles Schritt für Schritt dargestellt wird. Dem Autor geht es anscheinend nicht vorwiegend um die Lösung und Aburteilung eines Mörders, sonder vielmehr steht das Motiv des Mordes im Vordergrund. Der Leser selbst wird durch den Schreibstil Schirachs zum eigenen Standpunkt geführt. Wie urteile ich über einen Menschen, dem keine Gerechtigkeit zu Teil wurde? Was ist Selbstjustiz? Ist Selbstjustiz in jedem Fall zu verurteilen? Diese und viele andere Fragen werden beim Leser ausgelöst. Eine Antwort darauf zu finden ist bei der Fülle der Fakten, die der Fall hervorbringt, kaum möglich. Der Selbstmord des Täters lässt ein Urteil offen und ein jeder Leser mag selbst ein Urteil fällen.

Obwohl es sich hier um einen Justizroman handelt, versteht es der Autor, den Fall so zu erzählen, dass der Leser sich gut eindenken kann und Teil der Handlung wird. Durch seinen Stil drängt Schirach den Leser geradezu zu einer persönlichen Position in diesem Fall. Und wie auch bei dem Anwalt, der Richterin und dem Staatsanwalt erfolgt beim Leser ein Wechsel des Standpunktes. Der eigentlich offene Schluss, der recht abrupt erfolgt, führt zu einem weiteren Nachdenken über die Frage der Gerechtigkeit in unserem Staat, ja über die gerechte Urteilsfindung nach dem zweiten Weltkrieg.

 

Persönliche Meinung :

Von der ersten bis zur letzten Zeile des Romans stand ich unter Schock. Grausamkeit auf jeder Seite. Oftmals an die Grenzen des Erträglichen konnte ich dennoch das Buch kaum aus der Hand legen. Selten habe ich so viel Mitleid mit einem Angeklagten empfunden, auch wenn die Tat zu verurteilen ist. Doch wie lange kann ein Mensch rechtliche Ungerechtigkeit ertragen und das auch noch immer im Namen des Volkes. Ist es nicht vom menschlichen Standpunkt her nachvollziehbar, dass sich Opfer – und als solches muss Fabrizio Collini gesehen werden – irgendwann zum Täter wandeln, wenn ihnen der Justizapparat Gerechtigkeit und Sühne verwehrt?

Thematik und Erzählweise machen das Buch zu einem in jedem Falle lesenswerten Buch. Auch das Weiterdenken nach dem Buch ist garantiert und in unserer Gesellschaft durchaus vonnöten.

 

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Kerstin Schulz